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philnum

(Mitglied)

Hallo Posthörnchen,

interdisziplinäre Fragen abseits reiner Posthistorie interessieren viele noch nur am Rande oder gar nicht. Die über Postverordnungen, Taxen und Abstempelungen hinausgehende Social Philately widmet sich auch Zweck und Inhalt postalischer Kommunikation. Zukünftig geht es wohl nicht mehr so sehr um die abstrakte Analyse von Briefhüllen, sondern vielmehr darum, wer wann warum wem was mitteilte und wie die Beförderung erfolgte. Im "Morgenblatt für gebildete Leser", 27. Jahrgang (1833), S. 104 findet sich folgende Meldung vom Dezember:

„Die regelmäßige Dampfschifffahrt zwischen hier und Lübeck ist seit Mitte Oktobers für dieses Jahr geschlossen. Die Mittelzahl der Stunden, welche die Dampfschiffe unterwegs waren, ist 90. Sie haben während dieses Sommers bis zum 19ten Oktober, wo das lezte Dampfschiff von hier abging, 40 Fahrten gemacht und 1500 Passagiere geführt.“

Wenn der Brief nach Gregorianischem Kalender am 2.8.1839 verfasst wurde, können bis zur nächsten erreichbaren Schiffspassage durchaus einige Tage vergangen sein. Die reine Fahrtzeit von St. Petersburg nach Lübeck betrug zeitgenössischer Überlieferung zufolge knapp vier Tage. Spätestens Mitte August 1839 müsste der Brief in Lübeck eingetroffen sein.

Der St. Petersburger Briefschreiber scheint eine rege, sogar durchnummerierte Geschäftskorrespondenz mit dem Adressaten in der kleinen Handelsstadt im Burgund geführt zu haben. So bezieht er sich im ersten Satz von Schreiben No. 92 auf seine vorausgegangene Ankündigung in No. 91. Warum der Brief erst mit mehrwöchiger Verzögerung nach Frankreich weitergeleitet wurde, erschließt sich nicht.

Beste Grüße

philnum
01.04.11, 12:00:43

Posthörnchen

(Mitglied)

geändert von: Posthörnchen - 01.04.11, 16:34:18

Hallo Philnum

Deine Voraussage, dass es zukünftig nicht nur um "die abstrakte Analyse von Briefhüllen, sondern vielmehr darum, wer wann warum wem was mitteilte und wie die Beförderung erfolgte", geht, wird meines Erachtens auf jeden Fall zutreffen. Es wird wohl ein größeres Augenmerk als bisher auf den geschichtlichen und sozialen Hintergründen gelegt werden, sodass Briefe nicht mehr nach Nummern sondern nach Epochen und geschichtlichen Zusammenhängen Interesse wecken werden. So nimmt die Anzahl der Briefmarkensammler zwar vielleicht weiter ab, aber dem Reiz einen alten Brief aus einer längst vergangenen Zeit in den Händen zu halten, von der man nur aus dem Geschichtsunterricht weiß, dass es sie gab, werden genauso viele Menschen erliegen wie vor 50 oder 70 Jahren.

Was die Erforschung der sozialen und geschichtlichen Hintergründe eines Briefes angeht, war es niemals so einfach wie heute. Per Mausklick steht mit dem Internet eine schier unerschöpfliche Wissensquelle bereit, aus der ich weiteres erfahren konnte:

Der Empfänger war "Germain-Marie Jacquillat^Despréaux, Inhaber/Grundbesitzer in Tonnerre und Mitglied des Conseil Général des Départements Yonne (oberstes Exekutivorgan eines Départements), geboren am 7 Februar 1766, gestorben am 23 Februar 1846.

Der Absender C.Hernozant war meines Wissens nach einige Jahre später Händler in Bordeaux, zumindest hatte ich mal einen Brief an einen Hernozant nach Bordeaux gesehen, kann aber natürlich auch jemand ganz anderes sein.

Das schöne an diesem Brief ist eben nicht nur die Optik; er hat auch seinen geschichtlichen Reiz. Er stammt aus dem Jahr in dem Becquerel auf den fotoelektrischen Effekt stieß, der im 20ten Jahrhundert erst durch Einstein erklärt werden konnte und der dafür seinen Nobelpreis erhielt. 1839 wurde außerdem eine zusammenfassende, wissenschaftliche Arbeit veröffentlicht, die den Aufbau von Tieren UND Pflanzen aus winzigen Zellen erklärt und beschreibt.
Gerade wenn ich mir solche Dinge vor Augen führe, erfreue ich mich umso mehr an dem kleinen Stück Papier eines Handelsreisenden, das so lange in sein Heimatland unterwegs war und doch so viele weltbewegende Ereignisse seitdem erlebt hat.

Sorry mit Augen rollen für das Abschweifen

Gruß posthörnchen
01.04.11, 16:30:50

Michael D

(Mitglied)

geändert von: Michael D - 01.04.11, 18:00:04

Hallo poosthörnchen,

Zitat von Posthörnchen:

..., allerdings hätte ich jetzt noch gerne gewusst wie viel Geld gespart wurde freuen
...


ein einfach schwerer (bis 7,5 gr.) Brief kostete damals von Petersburg nach Frankreich in den 3. Rayon umgerechnet rund 22 1/2 Sgr. (ohne russisches Porto)

Zitat von Posthörnchen:

...
Man müsste einmal versuchen herauszubekommen mit welchem Schiff der Brief zuvor aus Russland gekommen ist, das dürfte aber schwerlich gelingen.
...


Doch das kann gelingen, da viele Fahrpläne erhalten sind. Bei deinem Brief ist allerdings etwas schwerer, da man nicht weiß (bzw. evtl. aus dem Inhalt entnehmen müsste), ob der Brief in Petersburg oder in Lübeck liegengeblieben ist.
1839 besorgten 3 Schiffe den Postverkehr auf dieser Strecke.

Viele Grüße
Michael
01.04.11, 17:59:43

Posthörnchen

(Mitglied)

Hallo nochmal

Tut mir leid wenn ich etwas nerve aber ich gebe mich mit der Sache noch nicht zufrieden. Ich habe nun den Brief trotz meiner eher mäßigen französisch Kenntnisse soweit verstanden und möchte euch auch die zweite Seite des Briefs nicht vorenthalten.



Interessant ist für mich im Moment die erste Zeile des in der Mitte beginnenden Abschnitts und die Zeile darüber.
Da steht nicht nur Lübeck den 26. ??? sondern im nächsten Abschnitt außerdem, dass zwei entgegenkommende Briefe
aufgefunden wurden: vom 24 August und 5. ???.

Nach meiner Auffassung kann es sich alo bei "???" nur um S-bre also September handeln. Das heißt der Brief wäre
vom 21. bis 26. September von St.Petersburg nach Lübeck unterwegs gewesen und vom 27.September bis 3. Oktober
(Ankunftsstempel) nach Tonerre. Somit hätten wir hier auch keine so lange Wartezeit mehr.

Jetzt würde ich dich, Michael, bitten mir in Bezug auf die Schiffsfahrpläne zu helfen.
Ich würde nach einem Schiff suchen, dass am 26.September von Petersburg kommend in Lübeck angekommen ist und
die Idee mit dem julianischen Datumsformat vorerst beiseite legen.

Nocheinmal recht herzlichen Dank für die Hilfe an alle Beteiligten
04.04.11, 11:18:22

philnum

(Mitglied)

Hallo Posthörnchen,

der Brief wurde am 21. Juli 1839 in St. Petersburg angefangen (siehe 1. Seite oben), auf der 2. Seite wurde am 26. Juli in Lübeck ein P. S. in derselben Schrift ergänzt: "Ich komme an und finde hier Ihre 2 Briefe vom 24. August (?) und 5. 7. ..." Das legt nahe, dass der Absender selbst von St. Petersburg nach Lübeck reiste - Fahrtzeit siehe weiter vorn im Thread ca. 4 Tage - und den Brief mitnahm, um ihn erst in Lübeck abzuschicken.

Beste Grüße

philnum
04.04.11, 11:53:12

Posthörnchen

(Mitglied)

Danke Philnum

Dass der Absender selbst nach Lübeck reiste, passt eigentlich ganz gut, auf die Idee bin ich gar nicht gekommen freuen
Danke für deine Hilfe, so ist die Beschreibung so gut wie komplett.

Gruß posthörnchen
04.04.11, 13:23:12

carolinus

(Mitglied)

Hallo,

ein weiterer Portobrief von Lübeck nach Bordeaux vom 17. April 1835 zeigt den Lübecker Taxisstempel Feuser 2117-28, den T.T.R.4 und den (leider etwas oxidierten) Segmentstempel Allemagne p. Givet.



Der einfache Brief erreichte den Empfänger am 26. April und kostete ihn 19 Decimes.



Das Porto dürfte sich aus dem Auslandsanteil für den 4. Taxis-Rayon (9 Decimes) und den Inlandsanteil von Givet nach Bordeaux (10 Decimes) zusammensetzen.

Viele Grüße,
carolinus

Grüße aus Braunschweig, der Stadt Heinrichs des Löwen
08.05.11, 09:11:59

Posthörnchen

(Mitglied)

Hallo zusammen

Ich habe hier einen nicht ganz so schönen Brief, den ich mit einer Frage verbunden hier zeigen möchte.



Der Brief ist am 10. August 1846 nach Bordeaux aufgegeben worden, zeigt somit Feuser 2117-32 und den
Grenzübergangsstempel Valenciennes. Rückseitig ist der Ankunftsstempel vom 17. August 1846.
Dementsprechend ist der Brief also genau 14 Tage vor dem Brief von Carolinus (erster Beitrag in diesem Thread)
gelaufen und benötigte die gleiche Zeit (7Tage). Was mich stutzig macht ist der außerdem rückseitig
abgeschlagene K3 der Thurn und Taxischen Postexpedition in Hamburg (Feuser 1356-6).



Für mich liegt nahe, dass der Brief von Lübeck über Hamburg gelaufen ist,
aber weshalb ist beim Brief von Carolinus kein solcher Stempel?
Wann wurde ein Hamburger Stempel auf einem Brief von Lübeck nach Frankreich abgeschlagen und wann nicht?

Viele Grüße

David
03.10.11, 15:44:34

bayern klassisch

(Gast)

geändert von: bayern klassisch - 16.03.12, 20:59:40

Hallo Posthörnchen,

es gab m. W. keinen Kartenschluß Valenciennes - Lübeck, daher musste TT die Post über fremdes Territorium nach Hamburg bringen, wo es einen solchen gab.

Gerade bei Transiten blieb für die Bearbeitung der Poststücke oft nur wenig Zeit. Waren z. B. 50 Briefe abzustempeln, aber die Zeit nach 20 Briefen knapp geworden, so galt es Prioritäten zu setzen; diese waren die Kartierung und berechnung von Franko und Porto, die Ermittlung der Gewichte usw. usw.. Da war das Nicht - Anbringen eines Stempels lässlich, auch wenn heutige Sammler dies als Makel sehen.

Dein Brief ist attraktiv - da gibt es kaum schönere.

Liebe Grüsse von bayern klassisch
03.10.11, 16:29:12

Posthörnchen

(Mitglied)

Hallo bayern klassisch,

vielen Dank für deine Antwort. Ein Makel ist es doch keinesfalls, solange man diese Zeitknappheit an einem schönen Briefepaar belegen kann. So kann man auch auf den Alltag der Postbeamte zurückschließen freuen

Liebe Grüße

posthörnchen
03.10.11, 17:04:07
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